Pufferküsser
10. Dezember 2008 von Jan über Leander (2 Jahre und 3 Monate und 17 Tage).Vater und Sohn sitzen vor dem Laptop. Der Sohn schaut völlig gebannt in die sich flimmernden Bewegungen, zeigt auf den Bildschirm, ist fasziniert und begeistert. Als der Vater den Laptop nach 25 Minuten zuklappt bricht eine Welt für den Sohn zusammen – er versteht nicht, warum man ihm ein so schönes Erlebnis nehmen kann.
Was ist passiert – was haben Vater und Sohn gesehen, das den einen so begeistern kann?
Die Vorgeschichte:
In Berlin gibt es Straßenbahnen. Die heißen „Tram“ aber daran können sich Leanders westsozialisierte Eltern irgendwie nie so richtig gewöhnen. Diese Trams fahren vorzugsweise im ehemaligen Ostteil der Stadt und liegen so selten auf irgendeinem Verkehrsweg von Leander oder seinen Eltern, dass die drei damit kaum in Kontakt kommen.
Vor kurzer Zeit hatten Leander und Leanders Papa allerdings die Möglichkeit einen kurzen Weg statt zu Fuß mit der Tram zurückzulegen. „Das könnte ja eine spannende Erfahrung sein“, dachte sich Leanders Papa. War sie auch…
Seit dieser Zeit und dieser einen Station Tram-Fahrt redet Leander über nichts anderes mehr als über „Stassebahne“ – Straßenbahnen. Jederzeit, zu jeder Gelegenheit werden Leanders Eltern von ihrem Sohn daraufhingewiesen, dass Straßenbahnen die Krönung der öffentlichen Verkehrsmitteln seien. Stassebahne hier, Stassebahne da – obwohl wir in unserem Alltag quasi nie eine Straßenbahn zu Gesicht bekommen. Leanders liebstes Buch ist eine Infobroschüre der Münchner Verkehrsbetriebe zur „modernen Tram in Europa“ mit vielen kleinen Straßenbahnfotos in Aktion.
Um seinem Sohn eine Freude zu machen verfiel Leanders Papa an jenem besagten Abend auf die Idee die Google-Bildersuche mit dem Begriff „Straßenbahn“ zu bemühen. Das Kind war begeistert von den vielen Straßenbahn-Fotos auf dem Bildschirm. Doch das Web kann mehr. Und so wechselte der Vater auf YouTube. Suchbegriff: „Straßenbahn“.
Ein Fehler.
Dem Sohn auf den Knien gingen die Augen über von all den sich bewegenden Straßenbahnen und so musste jedes Video angeklickt werden. Ankommende Straßenbahnen, wegfahrende Straßenbahnen, Mitfahrten in Straßenbahnen wahlweise als Passagier oder Fahrer, Straßenbahnstreckenimpressionen, Straßenbahndetails. Leanders Papa schüttelte unentwegt den Kopf über die Einsteller dieser Videos, aber wahrscheinlich, so dachte er sich, sind das auch alles verzweifelte Väter von kleinen Jungs in der „Straßenbahn-Phase“. Leander fand es großartig. Jeder Straßenbahn wurde nachgewunken und sie lebhaft („Tschüü Stassebahn“) verabschiedet. Jede auch nur im Hintergrund entlanghuschende Straßenbahn wurde ausgiebig kommentiert. Die Faszination beim Sohn war unglaublich.
Nach dem wiederholten Anschauen eines sechsminütigen Videos „Straßenbahnen in Halberstadt“ mit – für den Vater – begrenzt tragfähigem Spannungsbogen, war allerdings die väterliche Geduld zu Ende und der Videoabend beendet. Und so groß die Begeisterung bei Leander vorher, so groß die Enttäuschung danach. Jedesmal, wenn in der Nähe von Leander seit dem der Laptop aufgeklappt wird, kommt Leander angehuscht, deutet auf den Bildschirm, setzt sein liebstes Lächeln auf und meint: „Stassebahne?“
Der Nikolaus hatte jetzt ein Erbarmen und dem kleinen Pufferküsser eine Siku-Straßenbahn geschenkt. Oder hat er Erbarmen mit Leanders Eltern gehabt und ihnen ihren Laptop zurückgeschenkt? Hauptsache alle sind glücklich…